Gemeindenachricht
„Lesen rettet die Seele“
04.04.2019
„Lesen rettet die Seele“
Eine Begegnung mit Rafik Schami im Kurhaus Waldbronn
„Ich brauche mehr Licht im Saal, damit ich die Leute sehen kann, bevor sie einschlafen“, so Rafik Schami, der weiß, wie man sein Publikum abholt und vom ersten Moment an sympathisch rüber kommt. Seinem außergewöhnlichen Talent zum freien Fabulieren war es geschuldet, dass seine angekündigte Lesung am Dienstagabend vom Kulturtreff in das weit größere Kurhaus verlegt werden musste, so groß war das Interesse der Waldbronner, den deutsch-syrischen Schriftsteller, der zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart zählt, live zu erleben. Nahezu 400 Gäste durften Christina Rieker vom Kulturring und Sven Puchelt von LiteraDur begrüßen, die den Leseabend organisiert haben. „Machen Sie dem Buchhändler den Rücken nicht so schwer“, motivierte Rafik Schami die Besucher, ein Buch zu erwerben. Der Autor war bereits eine Stunde vor der Veranstaltung im Saal, um eine persönliche Widmung in seine Bücher zu schreiben, was gut angenommen wurde. Rafik Schami ist ein Mensch, der den Kontakt zu seinen Zuhörern sucht, was an seiner Herkunft liegen mag.
Entsprechend der Erzähltradition seiner Heimatstadt Damaskus trägt er seine Geschichten emotional und ausschließlich mündlich vor. Dabei nimmt er das Publikum mit auf eine Reise in eine ferne Welt. Als Exilsyrer, der bereits im zarten Alter von 17 Jahren seine Heimat verlassen hat, „um frei zu sein, in seiner Art zu schreiben“, aber auch von seiner Sippe, die wie er sagt, „fast wie ein weiterer Geheimdienst funktionierte“, bot er in seiner Lesung einen faszinierenden Einblick in die manchmal sehr fremd wirkenden orientalischen Lebens- und Gedankenwelten, zeigte aber auch mit aufmerksamem Blick eines Fremden die Eigenheiten Deutschlands auf, das dem heutigen Pfälzer zur zweiten Heimat wurde. Miriam Eiermann hat bereits mehrere seiner Lesungen besucht und findet seine Erzählungen unglaublich: „Man versinkt in einer Welt und lebt in der Geschichte“.
Es ist der persönliche Erzählstil, der einen mitfühlen, aber auch mitleiden lässt, wenn Rafik Schami berichtet, wie er seine Gedichte vielen Verlagen angeboten hat, die sie teils ungelesen an ihn zurückgaben, dann aber Jahre später, als er erfolgreich war, selbst bei ihm anklopften. Es ist der Werdegang eines Mannes, der auch das Scheitern lernen musste, bevor er nach oben kam. Man könnte beinahe Mitleid empfinden für einen Autor, der bei einer seiner ersten Lesungen in Hannover vor einem Fünfköpfigen Publikum auftreten musste, für das er so viele Kilometer Fahrt in Kauf genommen hatte. „Doch was können die Fünf dafür, dass die anderen nicht kamen?“, kommentierte Rafik Schami das Ereignis. Sein Vater war als Bäcker zunächst auch gescheitert und er hatte seinen Sohn gelehrt, nie aufzugeben. Heute ist es Schami, der versucht, den deutschen Lesern seiner Bücher etwas von der Gelassenheit seines Kulturkreises zu vermitteln, der ihnen die Vielfalt der arabischen Welt nahebringen und so zur Vermittlung zwischen Orient und Okzident beitragen möchte. „Wir Deutsche würden die Syrer unterschätzen“, so Schami, nach seiner Lesung im kleinen Kreis beim Büchersignieren. In seiner Heimat gebe es Experten für alles, „aber es gibt auch die Zensur“. Seine Familie sei regimetreu und könne deshalb trotz seiner kritischen Bücher gut leben. „Die ausländische Presse interessiert das Regime nicht“, erklärt er und gibt an, das „schwarze Schaf“ der Familie zu sein, was ihn aber nicht störe. Er habe das Glück, hier in Deutschland in Freiheit leben zu dürfen, ohne eine Sippe, die für ihn „die Reproduktion der Diktatur in der Familie“ darstellt.
Es ist sein Ziel, die Menschen zum Lesen zu bringen. Denn „Lesen rettet die Seele“. Es sei eine Möglichkeit, andere Kulturen kennenzulernen und sie zu achten. Dafür gibt der weitgereiste Mann, der auch mit seinem Chemiediplom hätte erfolgreich werden können, nahezu einhundert Lesungen im Jahr.
Text: Tanja Feller